Cover
Titel
Arktisches Wissen. Schweizer Expeditionen und dänischer Kolonialhandel in Grönland (1908–1913)


Autor(en)
Pfäffli, Lea
Reihe
Globalgeschichte (32)
Erschienen
Frankfurt am Main 2021: Campus Verlag
Anzahl Seiten
201 S.
Preis
€ 34,95
von
Dania Achermann, IZWT, Bergische Universität Wuppertal

Die Schweiz blickt auf eine lange Tradition von Polarreisen und Polarforschung. Sie geht mindestens so weit zurück, wie im beginnenden 20. Jahrhundert das Rennen an die Pole seinen Höhepunkt erreichte. Das Interesse von Schweizer Expeditionen konzentrierte sich jedoch weniger auf den internationalen Wettbewerb um die Erstankunft, wie bei US-amerikanischen, britischen oder skandinavischen Unternehmen. Vielmehr gründete es in einer emotionalen Verbundenheit mit der vergletscherten Landschaft, die in den Augen der Reisenden den Schweizer Alpen ähnlich schienen. Einer dieser Schweizer Grönlandreisender war der Geologe Albert Heim (1849–1937), ein anderer sein Zeitgenosse Alfred de Quervain (1879–1927), Leiter der Schweizer Grönlandexpeditionen 1909 und 1912/13.

Das Buch von Lea Pfäffli, entstanden aus ihrer Dissertation, analysiert de Quervains Reisen zwischen 1908 und 1913 mit dem Hauptaugenmerk auf seiner Expedition von 1912/13. Damit blickt die Arbeit auf eine relativ kurze, aber kolonialgeschichtlich besonders interessante Zeitspanne. Grönland gehörte bereits in weiten Teilen zum dänischen Königreich, sah sich aber weiterhin den imperialen Machtbegehren unterschiedlicher Nationen ausgesetzt. Mit wissens- und kolonialgeschichtlichen Ansätzen geht die Autorin den Fragen nach, wie sich die Beziehung zwischen dänischen Behörden und den Schweizer Reisenden gestaltete, wie Wissen zwischen den Forschern und den grönländischen Inuit zirkulierte, wie diese die Schweizer wahrnahmen und auf welche Weise de Quervains Expedition in der Schweiz rezipiert wurde. Damit möchte die Autorin eine «transimperiale Geschichte arktischen Wissens» (S. 10) schreiben und die «Geschichte der Wissenschaft in außereuropäischen Regionen [...] relokalisieren» (S. 16).

Angesichts der imperialistischen Ambitionen verschiedener Grossmächte in jener Zeit, war die dänische Regierung sehr zurückhaltend, Reisen nach Grönland zuzulassen. Die Autorin stellt jedoch klar, dass die Schweiz nicht als konkurrierende Kolonialmacht betrachtet wurde, was es de Quervain erleichterte, eine Bewilligung zu bekommen. Die Reisegruppe überquerte Grönland von der West- an die Ostküste und interessierte sich vor allem für die grönländische Botanik und Meteorologie. Ihre Forschungsergebnisse veröffentlichte sie unter anderem in einem dänischen Publikationsorgan. Pfäffli kommt zum Schluss, dass sie auf diese Weise «colonial knowledge» produziert und so die dänische Kolonialisierung Grönlands unterstützt hätten.

Obwohl alle erprobte Alpinisten waren, vertrauten die Schweizer Expeditionsteilnehmer auch auf lokales Wissen. Sie liessen sich in der Handhabung von Hundeschlitten trainieren, engagierten Inuit als Führer und Helferinnen und kauften Kleider lokaler Herstellung. Solches «implizites Wissen» ergänzten sie mit ihrer Expertise im Alpinismus. Die Beschreibung, wie de Quervain mit seinen Kollegen lernte, Peitschen zu schwingen, Hunde zu versorgen und Stiefel zu flicken, gehört zu den farbigsten Passagen des Buches und geben einen erhellenden Einblick in alltägliche sowie praktische Herausforderungen solcher Expeditionen. Gleichzeitig erfährt man, wie der dänische Monopolhandel organisiert war und wie sich die Situation Grönlands von derjenigen anderer Kolonien unterschied. Das Buch zeigt auch, dass der Wissensfluss zwischen den Schweizern und den Inuit in beide Richtungen funktionierte. Während die Wissenschaftler vom Erfahrungswissen der lokalen Bevölkerung profitierten, habe jene die medizinischen Kenntnisse der Schweizer in Anspruch genommen und die mitgebrachten Neuigkeiten und Briefe aus dem Westen Grönlands empfangen. Die Beziehung zwischen den Expeditionsmitgliedern und der lokalen Bevölkerung sei also weitaus komplexer gewesen, als sie später in den Veröffentlichungen dargestellt wurde.

Solche Veröffentlichungen und Vorträge konnten einen erheblichen Teil der Reisekosten decken. Dabei schlugen die Expeditionsrückkehrer vermehrt einen nationalistischen und imperialistischen Ton an. Die Schweizer Öffentlichkeit habe eine «symbolischimaginäre Teilhabe am Wettlauf um die Polargebiete» gewünscht (S. 173), und de Quervain und seine Kollegen kamen diesem Wunsch mit ihrer Inszenierung als Polarhelden entgegen.

Das Buch reiht sich ein in mehrere Forschungsarbeiten zu kolonialen Verstrickungen von Schweizern, die in den letzten Jahren entstanden sind. Es übernimmt viele postkoloniale Konzepte, die zu anderen Weltregionen entwickelt wurden und blickt damit auf Grönland. Die Arbeit zeugt von einer beeindruckend breiten Kenntnis der entsprechenden Forschungsliteratur. Eine besondere Stärke liegt denn auch darin, dass sie die aktive Rolle der grönländischen Bevölkerung betont, welche nicht nur Dienstleistungen erbrachte, sondern auch selbst aktiv Handel mit Wissen und Gegenständen betrieb. Allerdings wirkt die Analyse gelegentlich überladen mit postkolonialen Konzepten und Theorien, gerade weil zu Recht hervorgehoben wird, dass sich die Situation Grönlands von anderen Kolonien unterschied. Interessant wäre daher gewesen, dort noch genauer hinzuschauen, wo diese Theorien nicht passen. Der Wissensbegriff wird sehr breit gefasst. Doch darüber, wie wissenschaftliches Wissen auf diesen Forschungsreisen entstand, erfährt man leider kaum etwas. Zudem stimmen manche Details, wie beispielsweise die Verwendung des Modell-Begriffs nicht. Nicht «mathematische Modellierungen» (S. 40, 41) bestimmten etwa den Ansatz des Klimatologen Julius von Hann, sondern (Zirkulations‐)Theorien, die mit Beobachtungsdaten bestätigt werden sollten. Hier wäre eine fundiertere Einbettung der Forschungstätigkeiten in die umfangreiche wissenschaftshistorische Literatur zur Wetter- und Polarforschung wünschenswert gewesen. Dafür rückt der Einbezug von grönländischen Quellen eine wichtige, bisher oft vernachlässigte Perspektive in den Fokus. Das Buch leistet damit einen relevanten, aufschlussreichen und äusserst lesenswerten Beitrag zur Geschichte von Schweizer Grönlandreisen.

Zitierweise:
Achermann, Dania: Rezension zu: Pfäffli, Lea: Arktisches Wissen. Schweizer Expeditionen und dänischer Kolonialhandel in Grönland (1908–1913), Frankfurt / New York 2021. Zuerst erschienen in: Schweizerische Zeitschrift für Geschichte 72(3), 2022, S. 468-470. Online: <https://doi.org/10.24894/2296-6013.00114>.

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